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  © 2023






Ausgehend von historischem Material aus den Archiven des Palazzo hat sich Sissa Micheli mit der Rolle der Frau auseinandergesetzt. Fiktiv setzt die Foto- und Videokünstlerin verschiedene Briefe von Frauen aus dem 19. Jahrhundert aus dem Archiv in Szene. Zwei eigenständige Aufnahmen vereint sie zu einer überraschenden Umsetzung des historischen Ausgangsmaterials.

Während eine Stimme aus dem Off verschiedene Passagen aus den Briefen vorliest, erscheint in einer Projektion eine Aufnahme von der Künstlerin selbst im historischen Gewand vor einer romantischen Bergeller Kulisse mit einem modernen Auto. In der Szene stellt die Künstlerin die Pose des Caspar David Friedrich aus seinem berühmten Selbstporträt «Der Wanderer über dem Nebelmeer» von 1818 nach. Die Aufnahme greift zurück auf vorfotografische Zeiten und macht aus dem statischen Gemälde, das als eines der zentralen Werke der deutschen Frühromantik gilt, ein Tableau vivant. Die Künstlerin verschmilzt mit der Natur. Während ihre historischen Gewänder – ein schwarzes Kleid und ein waldgrüner Männermantel – aus dem Palazzo stammen, löst der schwarze BMW einen Bruch mit der Zeit aus. Der Blick in die Ferne mag ein Ausdruck der Nostalgie angesichts der Gedanken an die im Ausland weilenden Bergeller sein.

In einer weiteren Projektion gleiten aus dem Bestand des Palazzo Castelmur stammende Tauf- und Frauenhauben wie Fallschirme vom von Laubkränzen umgebenen Himmel, der durch die Trompe-l'OEil-Malerei im Turmsaal gegeben ist. Vor dem Hintergrund der imitierten Natur lassen die Hauben Verbindungen zu Geburten und zum Kreislauf des Lebens aufkommen. In ‹Fragments From A Possible Past – 46° 20' 33.23'' N / 9° 34' 57.2'' E› thematisiert die Künstlerin Schicksale von Frauen aus dem Bergell und schafft eine Zwischenwelt. Sie vereint Requisiten aus dem 19. Jahrhundert aus dem Palazzo Castelmur mit Symbolen aus unserer Zeit, betritt den Zwischenraum auch selbst. Eine Zwischenwelt, die durch Video produziert wird, eignet sich das Medium doch wie kaum ein anderes dafür, in die Geschichte einzudringen. So gestaltet Sissa Micheli, die in ihren Arbeiten häufig selbst als Protagonistin agiert, anhand einer spezifischen Bildsprache, welche Inhalte aus unserem kulturellen Erbe integriert, neue Bilder von Weiblichkeit.


Céline Gaillard