ON THE VERGE OF TIME - GESELLSCHAFT AM ANFANG?
2019
Unser ökologischer Fußabdruck zeigt Folgen, die Zerstörung natürlicher Lebensräume weitet sich aus. Unter dem Schlagwort Anthropozän ist die Vorstellung einer vom Menschen geschaffenen, künstlichen Natur gegenwärtig. Anthropozän lautet die Bezeichnung von Wissenschaftler*innen für das derzeitige Zeitalter des Menschen, das von extremen menschlichen Eingriffen in das Ökosystem geprägt ist. Artensterben und Klimawandel, das Meer in dem künftig mehr Plastik schwimmt als Fische und das Schrumpfen des Regenwaldes – das schießt uns durch den Kopf, wenn wir über Natur nachdenken und das Expandieren der Wüste.
Mit den Verschiebungen entsprechender medialer Narrationen (dem Switch zwischen Realem und Fiktivem), Landschaftsontologien, Klimastreik und unserem sich derzeit unter dem Einfluss von digitalen Prozessen, Sozialmedias und Robotik rasant verändernden Wissenschaftsverständnis sind wir in den Arbeiten von Sissa Micheli konfrontiert. Ein verlockendes Angebot zu einer imaginären Reise an verschiedene Orte unserer Welt, das neben ästhetisch scharfsinnigen Entdeckungen in seinem multimedialen Setting, Raum bietet über umweltethische Fragestellungen nachzudenken. Intensive wissenschaftliche Recherchen, die Lust an laborartigen Experimenten mit Materialien wie Fallschirmen und Gasmasken, die Wahl von Wüsten- und Vulkanlandschaften als Produktionsorte für Fotoshootings und Videodrehs,
Recyclingprozesse und die Aufforderung zur Teilnahme und Partizipation sowie die Ambition gängige Genres der Fotografie und Kunst anders zu denken, bilden dafür den Ausgangspunkt.
Sissa Micheli's raumgreifenden Installationen erforschen die Schnittstelle zwischen Standbild (Fotografie) und bewegten Bildsequenzen (Video). Das auf ein Lichtstativ montierte Bild While Capturing Magnetic Waves zeigt einen digitalen Fehler, der während des Fotografierens eines Panoramabildes bei Stromboli entstanden ist. Die Arbeit fungiert als eine Warnflagge dafür, dass durch die Lava, die in das Meer fließt, jederzeit ein Tsunami ausgelöst werden kann. Begeben wir uns gedanklich auf eine fiktive Zeitreise: Aus einer Postapokalyptischen Welt, könnte diese Aufnahme als Erinnerungsrelikt fungieren. Bis 2050 warnt ein Bericht wird die Erderwärmung nicht nur Fluten, Ernteausfälle, Todes- und Krankheitsfälle auslösen, sondern durch die Trockenheit auch große Feuerkatastrophen.
Ein Betrachtungsmöbel/Kino und Lichtstativ sind Teil des Settings, während Fotosticker (Handystick, kommt aber in der nächsten Zeile nochmals vor) und Fototasche als Requisiten in den Fotografien auftauchen. In der Fotografie Waving the Peace Flag werden als Signal des Friedens eine Windjacke und ein Handystick zu einer Flagge umfunktioniert, die auf einem Hügel in der Wüste Israels unter der 1949 Armistice Agreement Line vor dem Toten Meer in Richtung Jordanien geschwungen wird.
Die wachsende Anzahl von Hitzeschüben, Sturmfluten und Erdbeben sind ein deutliches Zeichen, dass Dystopien Realität annehmen und dass der Handlungsdruck steigt. Die 3 Vulkaninseln Vulcano, Lipari und Stromboli bilden den Austragungsort für das Fotoshooting und den Videodreh der postapokalyptischen Szenarien des Projekts Surviving the Volcano, von dem ein Video mit Sound und die Fotografien Woman with Gas Mask, Women with Parachute und Women Eating Last Food Supplies sich zu einer räumlichen Dramaturgie verspannen. Sissa Micheli zitiert in ihren Notizen dazu zur Lektüre von "Problems of Knowledge and Freedom" einen tiefgreifenden Gedanken des Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell, nämlich die Frage, ob man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen. In Surviving the Volcano verkörpern Sissa Micheli als sich selbst und als Akteurinnen eingesetzte Freundinnen die letzten Überlebenden in einer Welt, die durch die akute Umweltproblematik nicht mehr bewohnbar ist und, deren Outfit und Handlungen jenen von Außerirdischen gleichen, wie wir sie aus Science Fiction Filmen kennen. Paralysiert von dem postapokalyptischen Szenario wandeln die Protagonistinnen durch die karge, unbewohnbare Vulkanlandschaft. Welche Symbiosen lassen sich zwischen Mensch und Natur herstellen, wenn es darum geht Überlebensstrategien zu entwickeln?
Wichtige Dinge für die Inszenierung der Dramaturgie von Surviving the Volcano sind eine Gasmaske, ein Proviantfallschirm, archaisch und gleichzeitig futuristisch wirkenden Kleidungen aus silbernen Spezialstoffen, die auf Hitzschutzanzüge verweisen. Mediale Bilder wie wir sie aus Science Fiction Filmen wie Odysee im Weltall von Stanley Kubrik (z.B. Girl With Gas Mask aus der Serie Surviving the Volcano) werden auf ihre Abrufbarkeit getestet, die Begeisterung für Filme wie Vulkan-Apocalypse US, Planet der Affen, Terminator, Interstellar, Melancolia, Waterworld, Mad Max, The Day After, Survival of the Dead, Atlantis, The Matrix, die sich mit Endzeitszenarien befassen, wird skeptisch hinterfragt.
Weiters zum Einsatz gelangen für das Shooting der Serie Moments of Volcanic Exploration eine Rettungsdecke wie sie für die Bergung Verunglückter verwendet wird und mit deren silberner Innenseite Sissa Micheli eine zeltförmige Vulkanbeobachtungssstation auf Vulcano simuliert und jene auf Stromboli rekonstruiert. Wichtiges Detail der Inszenierung ist erneut die Flagge mit der Sissa Micheli auf das heurige Jubiläum der Mondlandung anspielt und darauf wie durch eine Politik des Neoliberalismus schamlos die Ausbeutung der Natur vorangetrieben wird.
Die filmische und fotografische Inszenierung von Surviving the Volcano als Performance bedient sich in der Dramaturgie auch Methoden des Dokumentarischen und wirft die Frage auf, was passiert, wenn fiktionale Elemente in der Realität platziert werden und wie es sich auf die reale Welt auswirkt. Das Filmen einer realistischen Fiktion schafft eine Erfahrung ähnlich der Realität allerdings mit einem performativen Twist. Im Video sehen wir etwas, das tatsächlich geschehen könnte und wirklich möglich wäre. Das versetzt uns in die Situation unsere "eigene Welt" zu überdenken, anscheinend offensichtliche Dinge zu hinterfragen und die Realität anzuzweifeln. Vergleichbar mit einem Science-Fiction-
Film wird durch die Dramaturgie eine andere Wirklichkeit geschaffen. Am Tag der Sonnenfinsternis fühlte sich das Herz an wie Zuckerwatte.
Sissa Micheli begibt sich auf den Spuren des Dolomieus, der um 1783 die liparischen Vulkaninseln erforschte und die Resultate seiner Reisen in "Voyage aus Isles de Lipari" teilte.
In einer ihrer aktuellen Multimediaarbeiten, der Oper "Dolomieu" (Georg Malfertheiner komponierte dafür die Partitur) in drei Akten befasst sich Sissa Micheli mit dem abenteuerlichen und bahnbrechenden Leben des Geologen Déodat de Dolomieu und entwickelte dafür eine zugleich dynamische und präzise Dramaturgie.
–– Ursula Maria Probst